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Online-Kurzgeschichten
Lesezeit: etwa 8 Minuten
von
Carolin S.

Twist in die Zukunft

"Luise, jetzt leg bitte dein Handy weg! Ich sag"s nicht noch einmal!"
Luises Mutter dreht sich nicht einmal um, als sie ihre Tochter ermahnt, sondern schaut in den Rückspiegel.
Luise rollt mit den Augen, legt ihr Smartphone dann aber zur Seite und kreuzt ihre langen, schlaksigen Beine zum Schneidersitz. Gut, dass Papa das nicht sieht. Er schaut konzentriert auf die Fahrbahn.
"Ich hab"s dir gesagt, Frank", meckert Mama immer noch, "Zehn Jahre sind einfach zu früh für ein Handy!"
"Ach was", Papa blickt Mama jetzt doch kurz an, "Technischer Fortschritt bewegt auch die Jugend voran."
"Luise ist zehn!"
"Und in dreizehn Tagen elf!" erinnert Luise ihre Mutter an den Geburtstag, auf den sie sich schon sehr freut.
"Und auch das ist noch zu früh! Als ich so alt war wie du, hab ich mit meinen Freundinnen im Heu getobt!"
"In Hamburg gibt es aber kein Heu", trotzt Luise.
Mama gibt auf. Sie weiß zwar, dass Papa als Chef einer Internetagentur auch seine kleine Familie stets auf dem neusten Stand halten will, aber manchmal findet sie seine Haltung übertrieben. Als Physiotherapeutin liebt sie doch eher den Umgang mit ihren Patienten fernab von Technik und Digitalisierung.
Das Ortsschild von dem norddeutschen Kuhkaff Holstendorf begrüßt Familie Lohmann in seinem gewohnt schmuddeligen Gelb und zaubert Luise Grübchen in ihre schmalen Wangen. Endlich! Hier ist alles wie immer.
Im Schaufenster des kleinen Internet-Cafés an der Ecke neben Dollys Kiosk hängt ein mit Edding Gekritzeltes Pappschild: "Jetzt auch mit W-Lan-Hot-Spot". Luise erkennt Dollys Klaue sofort. Auch Papa ist das Schild nicht entgangen: "Siehst du, selbst hier geht"s voran."
In der ersten Nacht auf Omas Hof gewittert es heftig. Blitz und Donner sind das eine, doch ein grässliches Heulen verhindert, dass Luise wieder einschlafen kann. Sie wälzt sich hin und her, steht dann entschlossen auf und geht in den Flur. Das Heulen kommt vom Dachboden. Etwas ängstlich zieht sie die Luke herunter, kletter die wackelige Leiter hinauf und tastet nach dem Lichtschalter. Die Glühbirne flackert auf und brennt durch, doch Lusie konnte gerade noch erkennen, dass das Dachfenster geöffnet ist und der durchziehende Wind das Heulen verursacht. Vorsichtig tapst sie zum Fenster, schließt es und ZAPP!!! grellt ein Blitz auf.
Luise erschrickt, stolpert zurück und fällt über eine Kiste. Eine Schatzkiste?
Ein kleines Büchlein mit Vorhängeschloss fällt heraus. Neugierig nimmt Luise es in die Hand. "Dieses Buch gehört Kerstin Eickmeyer" steht in Schreibschrift auf dem Buchdeckel.
Ihrer Mutter?
Neugierig blättert sie die erste Seite auf. Wenn es ein Tagebuch ist, dann wird sie es nicht lesen. Aber vielleicht ist es ja nur ein Fotoalbum.
Mit verblasster Tinte ist die erste Seite vollgeschrieben und vermerkt das Datum oben rechts: 18. Juli 1995. Das ist ja 25 Jahre her!
Und wieder erhellt ein Blitz die die dunkle Kammer. Erschrocken klappt Luise das Buch zu. Ob der Blitz irgendwo eingeschlagen ist? War das etwa eine Warnung? Schließlich geht sie das hier ja nichts an! Hastig legt sie das Buch zurück in die Kiste, schließt sie und klettert schlotternd die Treppe hinunter. In ihrer Furcht vergisst sie, das Fenster zu schließen.
Am nächsten Morgen tastet Lusie wie gewohnt auf dem Nachttisch nach ihrem Handy, um nach der Uhrzeit zu schauen, doch es liegt nicht dort. Ein laut tickender Wecker hat seinen Platz eingenommen. Stand der gestern auch schon dort?
Als sie hinunter in die Küche schlurft, brüht Oma gerade Kaffee auf: "Guten Morgen meen Deern! Du, ich hab vergessen die Milch von Bauer Paulsen zu holen. Ich geb" dir ein paar Groschen, ja? Und bring bitte zwei Dutzend Eier mit!"
Oma drückt Luise ein paar merkwürdige Münzen in die Hand und greift zu dem Schnur-Telefon, das an der Küchenwand hängt: "Ich ruf mal schon mal an, damit es schneller geht." Auch das Telefon war ihr gestern nicht aufgefallen.
"Ich hab" übrigens noch was für dich!" grinst Oma, reibt sich die Hände und tanzt zum Küchentisch. Aus der Schublade holt sie ein kleines Päckchen hervor: "Die haste dir doch so gewünscht. Na los, nun pack schon aus!"
Luise reißt verwundert das Geschenkpapier ab und hält eine Plastikhülle in den Händen, auf dessen Cover fünf überbunt gekleidete junge Frauen abgebildet sind.
Eine CD? Die kann sie doch nicht mal abspielen! Papa hat so einen CD-Player noch aus seiner Jugend. Aber Luise doch nicht.
"Danke, Oma!"
Oma ist etwas enttäuscht: "Haste sie etwa schon? Das ist die ganz neue von den Spice Girls! Die kannst du noch gar nicht haben! Aber ihr Mädchen heute seid ja immer von der schnellen Truppe. Da komm ich nich" mehr mit."
"Nein nein, wirklich, Oma! Ich freu mich!"
"Jaja, das seh ich dir an deiner Nasenspitze an", zwinkert Oma ihr ungläubig zu und gibt ihr einen Klaps auf den Po. "Nun zisch schon ab! Die Milch kommt schließlich nicht von allein."
Während Luise aus der Küche geht, blättert sie durch das kleine CD-Booklet. Ein Buch zur Musik. Wo gibt"s denn sowas? Etwa nur hier auf dem Land?
Aber schön sieht es schon aus. Die Mädchen wirken ein wenig albern auf sie. Aufgekratzt und zu gut gelaunt, aber irgendwie auch sympathisch.
Was steht denn da im Kleingedruckten? Copyright 1995?
Das soll die neuste CD sein? Vielleicht ist es eine Oldie-Band?
Doch dann fällt Luises Blick auf das Kalenderdatum: Juli 1995!!!
So vergesslich ist Oma noch nicht, dass sie seit 25 Jahren ihren Kalender nicht umblättert.
Was läuft hier schief?
Irgendwas muss gestern Nacht beim Gewitter passiert sein. Doch was?
Die Antwort muss in der Kiste sein! Schließlich war Mamas Schatzkiste bestimmt die Ursache dafür, dass Luise nun in einem Zeitalter von Gameboys und kleinen Plastikfiguren mit neonfarbenen Punk-Frisuren gelandet ist.
Luise klettert also wieder die wackelige Leiter zum Dachboden hoch, wühlt in der Kiste herum und findet zwischen einer regenbogenfarbenen Spirale und einem kleinen Kästchenblock mit einer Maus ein buntes Gummi. "Gummitwist" steht in Großbuchstaben drauf, und in einem Büchlein, da darunter klebt, steht eine Anleitung: Der berühmte Gummitwist-Sprung. Was auch immer das sein mag. Luise klappt das Büchlein auf und findet eine Anleitung: Schere, Sprung, rechtes Bein, linkes Bein, Kreuz, Schere, Schere, Sprung.
Verrückt ist das. Doch was hat Luise zu verlieren?
Sie spannt das Gummi auf, klemmt es zwischen zwei Stuhlbeine und springt. Wie war das nochmal?
Schere, Sprung, rechtes Bein, linkes Bein, Kreuz, rechtes Bein – Mist, das war falsch.
Schere, rechtes Bein, linkes Bein, Sprung – schon wieder falsch! Wie soll man sowas Bescheuertes denn bitte richtig hinkriegen?
Okay, ein letzter Versuch.
Schere, Sprung, rechtes Bein, linkes Bein, Kreuz, Schere, Schere, Sprung!
"Luise!" hört sie Oma aus dem Hausflur rufen, "Bist du auf dem Dachboden? Dein Handy schellt hier die ganze Zeit und ich find" keine Tasten zum abheben!"
Luise lächelt und ruft: "Ich komme, Oma!"