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Online-Kurzgeschichten
Lesezeit: etwa 4 Minuten
von
Carolin S.

Vegetarisch mit Fisch

"Willkommen in der Klinik. Dies wird für die nächsten drei Monate Ihr neues zu Hause sein."
"Na wunderbar. Davon habe ich doch immer geträumt", denkt sich Mona. Eine Zwangseinweisung in eine Psychiatrie für essgestörte Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Okay, zugegeben, Zwangseinweisung stimmt nicht ganz. Mona ist freiwillig hier, aber die Umstände haben sie dazu gezwungen, ihre Koffer zu packen und über die Schwelle dieser Einrichtung zu treten. Keinen Bock hatte sie mehr auf Konzentrationsschwierigkeiten in der Schule, verachtende und erschrockene Blicke auf dem Schulhof und in der Stadt und erst Recht nicht auf den Zirkus mit ihrer Familie, die ja nur ihr Bestes wollen und ihren Anblick ebenfalls nicht mehr ertragen können.
"Was ist Ihr Therapie-Ziel?" fragt der Chefarzt beim Anamnese-Gespräch.
Öhm, keine Ahnung?! Gesund werden. Okay. Das will jeder hier. Aber wozu? Wofür? Für welches Leben.
Sich plötzlich Ziele stecken zu müssen, darum ging es in den letzten zwei Jahren nicht. Es hat bisher Niemanden interessiert, was Mona wirklich wollte, und irgendwann hat sie es selbst aufgegeben. Es ging in den letzten Jahren eigentlich nur darum, den Tag irgendwie zu überstehen. In der Schule, in der Küche, im Leben generell an sich und sowieso.
Anforderungen der Lehrer in der Schule und dementsprechende Leistungen mussten erfüllt werden, der Status und die Meinung ihrer Mitschüler war wichtig und um nicht noch mehr dem Selbsthass zu verfallen, war es wichtig, immer ein liebes Kind zu sein. Niemanden verärgern, fleißig sein, freundlich und hilfsbereit bleiben, bloß nicht anecken.
"Schreiben Sie es mir bis zur nächsten Sitzung auf", fordert der Chefarzt und entlässt Mona in den Wusel der Klinik.
In der Empfangshalle wartet Mona auf die anderen Mitpatienten, weil sie von der Oberschwester herumgeführt werden.
Der Knoten im Magen, der sowieso jeden Tag eng gezogen ist, lässt sich heute überhaupt nicht lockern. Und trotzdem, so skurril es auch klingen mag: Hier fühlt sich Mona zum ersten Mal seit langer Zeit ansatzweise wohl. Aufgehoben. Diese Einweisung ist ein Schock und eine Ohrfeige zugleich. Ein Aufwachen. Schwindelig ist Mona ohnehin jeden Tag, doch heute verliert sie die Kontrolle. Komplett.
Ob das die Rettung ist? Loslassen, die Kontrolle aufgeben und zulassen, was längst nötig ist?
Ob dick, dünn oder normal gewichtig – die Menschen hier sind unterschiedlich und haben nur ein Ziel: Raus! Raus aus dem Bums, raus aus dem Mist, den sie täglich mit sich rumschleppen, und gerade deshalb halten sie zusammen.
"Fleisch, vegetarisch oder Vegetarisch mit Fisch?" fragt mich die Küchenhilfe nach ihrer kulinarischen Geschmacksrichtung.
Mona überlegt. Abgesehen davon, dass sie in den letzten Tagen vor lauter Aufregung eigentlich nur Zwieback geknabbert hat, steht plötzlich die Frage im Raum: Zu welcher Gruppe gehört sie? Nicht Fleisch, nicht Fisch? Nichts Halbes, nichts Ganzes?
"Man kann das später auch noch ändern", versucht die Küchenhilfe, Monas Entscheidungsprozess zu beschleunigen.
"Vegetarisch mit Fisch", antwortet Mona. Sie wird schon noch herausfinden, wozu sie gehört.